Literaturnobelpreis 1995: Seamus Heaney

Literaturnobelpreis 1995: Seamus Heaney
Literaturnobelpreis 1995: Seamus Heaney
 
Der irische Lyriker Seamus Heaney erhielt den Literaturnobelpreis »in Würdigung der lyrischen Schönheit und ethischen Tiefe seines Gesamtwerks«.
 
 
Seamus Justin Heaney, * Castledawson (Nordirland) 13.4.1939; Studium der englischen Literatur und Sprache an der University of Belfast, 1961 Abschluss, anschließend Lehrer beziehungsweise Lektor an mehreren Schulen und Universitäten in Belfast und Dublin. 1982 Gastprofessor in Harvard, dort ab 1985 ordentlicher Professor für Rhetorik, 1989-94 zwischenzeitlich Professor für Poetik in Oxford, lebt in Dublin.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit Seamus Heaney hat das Nobelpreiskomitee 1995 ohne Zweifel einen der größten Lyriker dieses Jahrhunderts ausgezeichnet. Seine Fähigkeit, mit lebendiger Genauigkeit die Details einer Kindheit im ländlichen Irland zu schildern, hat ihm Zugang zu einem breiten Lesepublikum geschaffen, gleichzeitig hat die Verwendung modernster poetischer Verfahren und seine klare Sprache auch anspruchsvolle Kritiker begeistert.
 
Dass Heaney 1995 den Preis erhielt, ist aber wohl auch mit dem sich abzeichnenden Friedensprozess in Nordirland zu erklären, nachdem IRA und Unionisten Ende 1994 einen unbefristeten Waffenstillstand erklärt hatten. »Als irischer Katholik hat Heaney die Gewalt in Nordirland analysiert — mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, konventionelle Begriffe zu vermeiden«, so das Nobelpreiskomitee. Heaney habe die »Ursache für den Bürgerkrieg in dem auf beiden Seiten fehlenden Willen gesehen, die Dinge beim Namen zu nennen — auch die manifeste Ungerechtigkeit«.
 
 Jugendjahre in »rassistischer« Umgebung
 
Die Benachteiligung als Katholik im protestantischen Nordirland hat Heaney früh am eigenen Leib gespürt: In eine katholische Familie in der nordirischen Provinz Derry geboren, waren Heaneys frühe Jahre vor allem vom Landleben geprägt. Obwohl seine Familie 1953 die Farm verließ und seine Karriere später eine Serie von Umzügen weiter und weiter weg von seinem Geburtsort mit sich brachte, blieb das ländliche Derry seine »country of mind«, die bis zum heutigen Tag den Boden für seine Poesie bereitet.
 
»Wir fühlten uns in diesem Universum keine Sekunde allein«, so Heaney in einem Interview.
 
Umso krasser war der Gegensatz zwischen der Intimität innerhalb der Familie und allem Trennenden außerhalb, das er später in Londonderry erfuhr. Mit zwölf bekam Heaney dort ein Stipendium an einem katholischen Internat mitten in der Stadt. »In Nordirland ist das Wort »katholisch« fast ein rassistischer Terminus, ein Sammelbegriff für eine ganze Reihe kultureller Vermutungen«, sagte er später in einem Interview. Aus der Kluft zwischen englischer Sprache und keltischer Tradition schöpfte Heaney aber auch seine reiche und melodische Sprache und Metaphorik: »Ich spreche und schreibe zwar auf Englisch, aber eben nicht in der Perspektive eines Engländers. Ich schleppe noch einen zweiten Buckel mit mir herum.«
 
 Universitätsbesuch und erste Werke
 
Auch seine akademische Entwicklung vollzog sich im Schatten dieses zweiten Buckels, der erwachenden Bürgerbewegung in Nordirland. Während seines Studiums an der Queens University in Belfast entdeckte er in den Büchern von James Joyce und Daniel Corkerys Möglichkeiten für sich, die Kluft zwischen Kirche und Wissenschaft zu überwinden. Er veröffentlichte erste Gedichte in Universitätsmagazinen, arbeitete anschließend ein Jahr als Lehrer in Belfast. Sein erster Gedichtband »Tod eines Naturforschers« wurde 1966 von der Kritik sehr wohlwollend aufgenommen. Gerühmt wurde das klare Auge für das Alltagsleben der nordirischen Landbevölkerung und Heaneys Fähigkeit, eine komplexe Ästhetik mit einer einfachen, klaren und schönen Sprache zu kombinieren. Neben seiner Tätigkeit als Englischdozent an der Universität Belfast ab 1966 kommentierte er für die BBC in Radio und Fernsehen kulturpolitische Themen. Nachdem im Juni 1969 Heaneys zweiter Gedichtband »Eine Tür ins Dunkel« erschien, erwartete die Kritik mit gewisser Ungeduld seine Reflexion auf die eskalierende Gewalt in seiner Heimat. Am 5. Oktober 1968 waren 88 katholische Bürgerrechtler in Londonderry bei einer friedlichen Demonstration teilweise schwer verletzt worden. Neue bürgerkriegsähnliche Zustände in Londonderrys Innenstadt folgten, die schließlich im August 1969 in der Gründung der radikalen, »provisorischen IRA« in Dublin gipfelte: Der Bürgerkrieg war nicht mehr aufzuhalten.
 
 Poesie in hochgradig politisiertem Umfeld
 
Heaney reagierte auf die blutigen Ereignisse mit dem Text »Craig's Dragoons« zur Melodie des Loyalistenlieds »Dolly's Brae«. Zwei Jahre später folgte ein zweites, vorläufig letztes politisches Gedicht, eine Lamentation für die 13 zivilen Toten vom 30. Januar 1972, Londonderrrys Blutsonntag. Doch ansonsten hielt sich Heaney mit öffentlichen Bekundungen zurück und entfloh dem Chaos in seiner Heimat 1970/71 an die Berkeley University in Kalifornien zu einem akademischen Jahr. Nach seiner Rückkehr zog er in die irische Republik um, unter hysterischen Schmähungen der Protestanten. Dem 1972 erschienenen Band »Überwintern« wurde vorgeworfen, die politische Situatuion zu ignorieren und stilistisch auf der Stelle zu treten. Heaney beschrieb seine damalige Situation im Aufsatz »Vom Fühlen der Wörter« (1980) wie folgt: »Von jenem Moment an bewegten sich die Probleme der Dichtung vom Streben nach einem befriedigenden Sprachbild zur Suche nach Bildern und Symbolen, die unserer misslichen Lage adäquat sein sollten.. .. Ich suchte ein Kraftfeld, um. .. der religiösen Intensität der Gewalt ihre erbärmliche Authentizität und Komplexität zuzugestehen, ohne auf die Treue gegenüber den Prozessen und der Erfahrung der Dichtung. .. verzichten zu müssen.«
 
Als 1975 der Gedichtband »Norden« erschien, verstummte jegliche Kritik. Noch heute gilt er als Heaneys Schlüsselwerk, das den Dichter mit einem Schlag zum bedeutendsten zeitgenössischen Poeten Irlands machte. Heaney bettete den blutigen Alltag Nordirlands in die keltische Überlieferung ein und schlug in seinen Gedichten eine metaphorische Verbindung zwischen dem sektiererischen Morden von Katholiken und Protestanten und den ritualisierten Menschenopfern im vorchristlichen Jütland. Kritiker feierten den Band als Sieg der Imagination über den Terror.
 
1976 zog die Familie (Heaney ist verheiratet und hat drei Kinder) in ein Haus in Dublin. Der Gedichtband »Feldarbeit« (1979) wies ebenso wie der 1984 folgende Band »Station Island« über die bloße irische Situation hinaus. Anleihen bei Ossip Mandelstam, T. S. Eliot (Nobelpreis 1948), Dante, aber auch amerikanischen Dichtern wie Elizabeth Bishop und Sylvia Plath oder den Polen Zbigniew Herbert und Czesław Miłosz (Nobelpreis 1980) halfen ihm bei seinem Versuch, das Familiäre, Regionale in einen größeren dichterischen Horizont einzubetten, ohne die politische Situation seiner Heimat je aus den Augen zu verlieren.
 
M. Geckeler

Universal-Lexikon. 2012.

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